Kurt Tucholskys Zentrale aus dem Jahr 1925 beschreibt ziemlich genau Wolf Lotters Albtraum:
„Die Zentrale hat zunächst eine Hauptsorge: Zentrale zu bleiben. Gnade Gott dem untergeordneten Organ, das wagte, etwas selbständig zu tun! (…) Die Zentrale ist eine Einrichtung, die dazu dient, Ansätze von Energie und Tatkraft der Unterstellten zu deppen. Der Zentrale fällt nichts ein, und die anderen müssen es ausführen.“
In seinem neuen Essay mit dem Titel Zusammenhänge diagnostiziert der Publizist Wolf Lotter diesen Geist auch heute noch vielen Organisationen, die auf Zentralisierung, Effizienz und Vereinheitlichung getrimmt sind. Überall dort, wo die Zentrale herrscht, bleiben dann nicht nur individuelle Selbstbestimmung und Selbstentfaltung auf der Strecke. Auch die Gemeinschaft nimmt Schaden: „Wo man alle und alles gleichmacht, entsteht nicht etwa eine ‚gerechtere‘ Gesellschaft, sondern das Gegenteil davon, eine sedierte soziale Oberfläche, unter der ständig Konflikte über Wertschätzung, Belohnung, Rollen, Bedeutungen und Anerkennung toben.“
Als Therapie verschreibt Lotter: eigenständiges Denken, Kontextkompetenz, Vernetzung.
Kontextkompetenz meint die Fähigkeit, sich komplexe Zusammenhänge erschließen und in der modernen Welt immer wieder Durch- und Überblick verschaffen zu können. Sie ist der Schlüssel zu individueller Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Und gleichzeitig lassen sich auch die gesellschaftlichen Großthemen unserer Zeit – von der Nachhaltigkeitsfrage bis zum technologischen Wandel – nur bewältigen, wenn wir in Systemzusammenhängen denken. Statt die Komplexität der Welt reduzieren zu wollen, müssen wir sie uns zueigen machen.
Eine entscheidende Rolle spielt für Lotter dabei die Vernetzung von Menschen und von Ideen. Netzwerke, so Lotter, schaffen Assoziationsräume, die verschiedenes Denken verbinden und uns auf diese Weise voranbringen. Genau diesen Anspruch erhebt auch sein Essay: er versteht sich „als Hypertext, denn er geht in jeder Zeile davon aus, dass die Leserinnen und Leser die darin gesammelten Anregungen als Sprungbrett für eigenes Denken und Weiterlesen nutzen.“ (Spoiler: Er erfüllt diesen Anspruch.) Das heißt nicht, dass man allen Thesen und Gedankengängen des Autors zustimmen muss. Statt ums Rechthaben geht es Lotter ohnedies vielmehr um die Debatte. Lotter ist Liberaler. Er weiß – wie Mario Vargas Llosa sagt: „unter Liberalen gibt es oft mehr Meinungsverschiedenheiten als Übereinstimmungen.“
„Freiheit ist die Möglichkeit zur Isolation. Du bist frei, wenn du dich von den Menschen fernhalten kannst“, lässt Fernando Pessoa seinen traurigen Hilfsbuchhalter Bernardo Soares schreiben. Wolf Lotter hat eine andere Vorstellung von Freiheit – eine, in der das Ich und das Wir keine Widersacher sind. Sein Credo lautet: Sei frei – nicht indem du dich von der Welt zurückziehst, sondern indem du dich ihr zuwendest.
Und so wünscht Lotter seinen Leserinnen und Lesern die Erkenntnis, dass „die Wissensgesellschaft [das ist], wonach wir uns sehnen, die Möglichkeit, sich zu unterscheiden, ohne die Welt und die anderen als Feind wahrzunehmen. Die großartige Idee hinter den Netzwerken ist, dass jeder der sein kann, der er ist, jede werden darf, was sie sein möchte – und in ebendieser Verschiedenheit mit der Welt verbunden ist.“
Ich wünsche Wolf Lotter und seinem Buch ein großes Publikum, das in den Genuss dieser wunderbaren Erkenntnis kommen darf.
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Wolf Lotters Essay Zusammenhänge – Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen erscheint am 28. September 2020 in der Edition Körber. Ich hatte die Freude, vorab einen Blick in das Buch werfen zu dürfen.