Markt und Moral sind kein Widerspruch

Von Thomas Lange und Christoph M. Schmidt

Vor 70 Jahren setzte Ludwig Erhard die Aufhebung von Zwangsbewirtschaftung und Preisbindung durch. Lob- und Festtagsreden sowie Parteiprogramme und Koalitionsverträge beschwören seither das Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Sie unterliegen dabei einer Gefahr. Wer den Eindruck erweckt, dass die Marktwirtschaft erst durch den Zusatz des „Sozialen“ moralisch akzeptabel wird, transportiert im Umkehrschluss die Botschaft: Die Marktwirtschaft als solche ist unmoralisch und erfordert aus ethischen Gründen permanent korrigierende politische Eingriffe.

Wir halten diese Grundannahme für falsch. Sie bildet auch den Kern der gegenwärtigen Akzeptanzkrise der Marktwirtschaft:

Obwohl es Deutschland wirtschaftlich so gut geht wie lange nicht, schwindet in der Öffentlichkeit das Vertrauen in unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Alternative Heilsversprechen gewinnen Zuspruch – Stichwort Gemeinwohlökonomie oder bedingungsloses Grundeinkommen. Systemkritische Erzählungen („Wirtschaft dient nur den Reichen“, „Wettbewerb zerstört Solidarität“) ersetzen zunehmend Erhards „Wohlstand für alle“.

Viele Menschen empfinden offenbar einen Widerspruch zwischen den ökonomischen Grundbedingungen der Marktwirtschaft einerseits und ihren moralischen Vorstellungen von Freiheit, Würde, Solidarität und Gerechtigkeit andererseits. Diese moralischen Fragen verlangen nach moralischen Antworten. Dabei gibt es durchaus eine tragfähige Erzählung, die dazu geeignet ist, die normativen Grundlagen unserer Kultur wieder stärker mit den Grundlagen der Marktwirtschaft zu versöhnen.

Denn in die moralische Bewertung der Wirtschaftsordnung müssen immer zwei Faktoren gleichermaßen einfließen: Erstens die normativen Prinzipien und zweitens die konkreten gegenwärtigen Realisierungsbedingungen. Das normative Ziel jeder Wirtschaftsordnung sollte das Glück beziehungsweise das gelingende Leben aller Menschen sein; sie sollte die Freiheit und Würde jedes Einzelnen sowie den Zusammenhalt der Gesellschaft verbinden. Unter Berücksichtigung der empirischen Realisierungsbedingungen unserer modernen Welt, vor allem der Knappheit von Ressourcen, ist die Marktwirtschaft die beste bisher bekannte Wirtschaftsordnung zur Verwirklichung dieser normativen Ziele.

Denn diese ist Kernbestandteil unserer politischen Ordnung, unseres wirtschaftlichen Erfolgs und gesellschaftlichen Wohlstands. Die Voraussetzung dafür, dass sie diese Aufgabe erfüllt, ist allerdings, dass ihre beiden Funktionsimperative zum Zuge kommen dürfen: Wettbewerb und Gewinnstreben der Unternehmen. Wettbewerb zerstört dabei nicht die Solidarität. Eine kluge marktwirtschaftliche Ordnung nutzt vielmehr den Wettbewerb sowie das Streben nach individuellem Glück und unternehmerischem Gewinn, um für nachhaltige Solidarität zu sorgen.

Wenn man die Realisierungsbedingungen für Wirtschaftsordnungen in modernen, offenen, global verbundenen und freiheitlichen Gesellschaften ins Kalkül zieht, ist eine gut geordnete Marktwirtschaft allen anderen bisher bekannten Systemen aufgrund ihrer Wohlfahrtswirkungen daher nicht nur ökonomisch überlegen, sondern auch moralisch. Planwirtschaftliche Ansätze haben dagegen im Praxistest ein ums andere Mal zu Armut und Verlust von Freiheit und Solidarität geführt.

Drei Aspekte sollten wir uns im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder vor Augen führen.

Erstens: In vormodernen Gesellschaften gab es kein Pro-Kopf-Wachstum, keinen Zugewinn an Wohlstand für alle. Wer reich wurde, wurde dies auf Kosten anderer, durch Plünderung und Enteignung. Viele intuitive Moralvorstellungen, die wir über Generationen hinweg verinnerlicht haben, wurzeln in dieser Zeit. Wenn wir uns die Ergebnisse des Wirtschaftens als gleichbleibend großen Kuchen vorstellen, empfinden wir Ungleichverteilung als ungerecht: Wer viel bekommt, hat jemand anderem etwas weggenommen. In der modernen Marktwirtschaft dagegen erzeugen Innovationen Wachstum. Der Kuchen wächst. Steigende Einkommen gehen nicht mehr zwingend zulasten anderer. Alle können gleichzeitig an steigendem Wohlstand teilhaben.

Zweitens: Unsere moralischen Intuitionen sind evolutionsgeschichtlich und biografisch vor allem auf Probleme in kleinen Gruppen und auf Handlungen mit überschaubaren Wirkungsketten ausgerichtet. Es ist die Moral des barmherzigen Samariters und des Heiligen Martin. Im unmittelbaren Miteinander sind sie unverzichtbar. Wendet man sie aber auf gesamtgesellschaftliche oder globale Zusammenhänge an, führen sie in die Irre. So wird Umverteilung allein das Problem der weltweiten Armut etwa nicht lösen. Vielmehr brauchen wir Antworten darauf, wie arbeitsteilig globaler Wohlstand gemehrt werden kann.

Drittens: Die moralische Qualität des Wettbewerbs in modernen, arbeitsteiligen Großgesellschaften hängt nicht von den guten Absichten des einzelnen ab. Die Solidaritätswirkung erwächst aus der Leistung des Systems. Sie ist eine unpersönliche Solidarität. Deshalb fehlt uns vielleicht die unmittelbare moralische Befriedigung. Das tut der moralischen Qualität aber keinen Abbruch: Die Marktwirtschaft ist die beste uns bekannte Quelle für gesellschaftlichen Wohlstand unter Wahrung individueller Freiheit. Sie gibt uns damit auch erst die Möglichkeit, Solidarität zu leben.

Wenn wir die Marktwirtschaft in dieser Weise betrachten, löst sich der vermeintliche Widerspruch zwischen Markt und Gemeinwesen, zwischen Wettbewerb und Solidarität auf. Diese Einsicht ist der geeignete Referenzpunkt für den Umgang mit Fehlentwicklungen empirischer Marktwirtschaften. Denn keine Marktwirtschaft ist perfekt. Sie braucht immer eine Rahmenordnung. Der Staat muss Leitplanken für den Wettbewerb setzen und im Falle von Marktversagen oder Koordinierungsversagen in das Marktgeschehen eingreifen.

Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel: Unregulierte Märkte produzieren im Ergebnis zu hohe Treibhausgasemissionen. Die Lösung des Problems besteht aber eben nicht darin, die Gesetzmäßigkeiten des Marktes zu „durchbrechen“ oder den Markt zu „bändigen“. Vielmehr geht es um kluge (Re-)Designs, die den Wettbewerb gezielt als Entdeckungsprinzip nutzen. Als Entdeckungsprinzip für Innovationen, die effizienten Klimaschutz ermöglichen.

Ganz konkret: Eine einheitliche Besteuerung der Energieträger nach ihrem CO2-Gehalt auf europäischer Ebene wäre ein solches Re-Design. Der staatliche Eingriff verändert die Spielregeln des Wettbewerbs, indem er umweltgerechteres Handeln belohnt und umweltschädliches Verhalten verteuert. Der Staat regiert aber nicht in die Spielzüge der einzelnen Akteure hinein. Welche CO2-sparenden Technologien bei der Erzeugung von Strom oder Wärme zum Einsatz kommen, entscheidet sich im Wettbewerb. Der intendierte Wohlfahrtseffekt drückt sich in effektivem Klimaschutz bei gleichzeitig bezahlbaren Energiekosten aus. Ein staatlicher „Masterplan“ kann dies nicht leisten, weil ein einzelner Akteur niemals zentral über alle Informationen verfügen kann, die zur Steuerung eines komplexen und dynamischen Systems notwendig sind. Im Wettbewerb vieler dezentraler Wissensträger aber kann Innovation entstehen.

Die deutsche Energiewendepolitik geht leider einen anderen Weg. Sie fördert gezielt einzelne Technologien. Damit greift sie in die Spielzüge der Marktteilnehmer ein und behindert so den Wettbewerb. Von solchen Wettbewerbsbeschränkungen profitieren immer nur Teilgruppen der Gesellschaft. Sie mindern aber die Chance auf Wohlstand – für alle. Deshalb verbieten sie sich in der Regel nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch aus ethischen. Dies gilt selbst dann, wenn der Wettbewerb in Einzelfällen zu Härten führt.

Kommen wir zurück zur Sozialen Marktwirtschaft. Das „Soziale“ dient nicht der Korrektur der Marktwirtschaft. Vielmehr verdeutlicht es ihre noch weitere Verbesserung oder besser gesagt Veredelung. Dies bedeutet einerseits, soziale Härten im Strukturwandel abzufedern. Andererseits „gebieten es die soziale Gerechtigkeit und das Subsidiaritätsprinzip, dass wir Modernisierungsverlierer nicht durch Alimentierung, sondern durch Befähigungsstrategien eine sinnvolle gesellschaftliche Perspektive ermöglichen.“ So formulierte es Norbert Lammert kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Wir rufen die Eliten in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft dazu auf, sich sichtbar und vernehmbar hinter die Marktwirtschaft zu stellen und ihre Diskursverantwortung wahrzunehmen. Dazu gehört auch, dass sie das Regelsystem selbst einhalten, das den Markt erst ermöglicht. Und dass sie sich klar von individuellem Fehlverhalten wie Marktmanipulationen, Betrug oder Ausnutzung von Ordnungsdefiziten distanzieren.

Nur so können wir wieder Vertrauen in die Marktwirtschaft zurückgewinnen.


Dieser Beitrag ist am 14.12.2018 zuerst im Handelsblatt erschienen.

Er basiert auf der acatech DISKUSSION „Vertrauen in die Marktwirtschaft zurückgewinnen: Für ein tragfähiges Narrativ werben und Diskursverantwortung wahrnehmen“ von Karl Homann, Thomas Lange, Christoph M. Schmidt, Joachim Milberg und Joachim Weimann.