Die Lehre der Bienen

Von Marco Wehr

Es ist gefährlich, einem Plan zu folgen, wenn es keinen Plan gibt. In solchen Fällen ist es besser, sich die Natur als Vorbild zu nehmen.


Die Corona-Epidemie ist bekannt und fremd zu gleich. Epidemien gibt es seit Menschengedenken, wobei gerade die der jüngeren Zeit sorgfältig untersucht wurden. Man bemüht sich aus deren Dynamik für die Zukunft zu lernen. Das gilt für SARS, MERS und Ebola genauso wie für die Vogel- und Schweinegrippe.

Fremd ist das momentane Szenario, weil jede Epidemie ihr eigenes, unverwechselbares Gesicht hat. Das macht Corona unheimlich.

In diesem Zusammenhang kann man an den chinesischen Strategen Sun Tsu denken.  Dieser schrieb schon vor zweieinhalbtausend Jahren: „Wenn Du deinen Feind kennst und Dich selbst, brauchst Du das Ergebnis von 100 Schlachten nicht zu fürchten.“ Dieses Zitat aus dem Buch „Die Kunst des Krieges“ lässt sich auch im Umkehrschluss lesen und damit auf die momentane Situation übertragen. Kennst Du weder Dich, noch die Gefahr, ist das beängstigend. Obwohl in einem weltumspannenden Kraftakt die Erbsubstanz des Virus in kürzester Zeit sequenziert worden ist und bereits nach Wochen erste Nachweisverfahren zur Verfügung standen, gibt es nach wie vor viele Bereiche, in denen wir auf Mutmaßungen angewiesen sind: Es lässt sich schlecht abschätzen, wie viele Menschen tatsächlich in den verschiedenen Ländern infiziert sind. Es wird diskutiert, ob Genesene völlig immunisiert sind. Es ist nicht klar, warum mehr Männer sterben als Frauen. Und es gibt bis dato nur begründete Vermutungen über Inkubationszeiten. Außerdem weiß man nicht genau, welche Symptome für die Krankheit wirklich charakteristisch sind.

Neben offenen Fragen, die die Krankheit betreffen, lässt sich nur grob abschätzen, wie wir als Bevölkerung mit den Belastungen der Quarantäne umgehen werden. Zuletzt ist die Frage, wie lange wir den Shutdown aushalten können, ohne die Wirtschaft nachhaltig zu schädigen, völlig offen. Das ist in der Summe verstörend. Für ein solches Geschehen gibt es kein vorher geschriebenes Drehbuch.

Deshalb stellt sich in diesem Zusammenhang eine paradox wirkende Schlüsselfrage: Wie soll man in einer so unübersichtlich erscheinenden Situation rational handeln, wenn ausgerechnet viele Daten, die die Grundlage rationaler Entschlüsse sein könnten, fehlen? Zuerst ist es an dieser Stelle geboten, zwischen Wissen und Unwissen zu unterscheiden. Auf der Habenseite stehen die Erfahrungen, die wir mit Epidemien gemacht haben. Aus diesen Erfahrungen resultieren die Pandemiepläne, die lange in den Schubladen schlummerten. Wir wissen aufgrund epidemiologischer Expertise, dass die verschiedensten Kontaktsperren und Quarantänemaßnahmen wirken, wenn sie konsequent gehandhabt werden.

Wir wissen allerdings nicht, welche Folgen sozialer und wirtschaftlicher Art diese Maßnahmen haben werden. Für diese Frage gibt es kein valides mathematisches Modell. Das Problem ist hyperkomplex. Weder weiß man, welche Variablen hinreichend und notwendig sind, um die augenblickliche Situation zu beschreiben. Und noch weniger lässt sich angeben, welche Werte die Variablen haben müssten, damit wir so an den Stellschrauben drehen könnten, dass sich das System in unserem Sinne stabilisiert.

In solchen Fällen muss man sich von herkömmlichen Strategien der Planbarkeit verabschieden. Es bleibt einem nur noch die Möglichkeit, mit einem der Evolution entlehnten Prinzip zu arbeiten. Um dieses Prinzip zu verdeutlichen, wechseln wir kurz den Blickwinkel und fassen exemplarisch die ungewöhnliche Unternehmenstrategie von Götz Werner ins Auge. Herr Werner ist der Gründervater der Drogeriemarktkette dm. Werner – ein Querdenker – hat konsequent mit einem zentralen Managementdogma gebrochen. Nachdem seine Firma stürmisch gewachsen war und aus zigtausend Filialen bestand, erkannte Werner, dass es keinen Sinn mehr machte, diese Filialen zentral vom Unternehmenssitz in Karlsruhe zu steuern. Das Steuerungsproblem war zu komplex geworden und er wollte sich keiner gefährlichen Kontrollillusion hingeben. Deshalb entließ er seine Filialleiter in die Selbstverantwortung. Da die besonderen Begebenheiten vor Ort überall unterschiedlich waren, sollten sie selbst herausfinden, welche Strategie die beste ist. Anfangs sträubten sich die Führungskräfte vor soviel Selbstverantwortung. Mittlerweile ist das Prinzip etabliert. Dieses Vorgehensweise erinnert an die Evolution, weil sich die verschiedenen Filialen an spezifische marktwirtschaftliche Nischen anpassen. Eine Adaptionsleistung, die mit zentraler Steuerung nicht zu leisten ist.

Übertragen auf die Coronakrise können wir es als großen Vorteil ansehen, dass wir 16 verschiedene Bundesländer haben, die mit graduell unterschiedlichen Strategien an das Problem herangehen. Das ist aber nur dann ein Vorteil, wenn die Länder nicht in Konkurrenz sondern in Kooperation arbeiten! In diesem Sinne geht es nicht darum, ob Markus Söder oder Armin Laschet mit ihren Vorgehensweisen recht haben. Die Epidemie ist nicht die geeignete Bühne, um einen Hahnenkampf zu inszenieren. Es geht vielmehr darum,  Ergebnisse zu vergleichen und zu den spezifischen Entstehungsbedingungen in Beziehung zu setzen. Damit dieser wechselseitige Lernprozess funktionieren kann, ist es aber notwendig, dass die Daten schnellstmöglich in vergleichbarer Weise dokumentiert werden, um sie allen Beteiligten zugänglich zu machen. Man hat allerdings den Eindruck, dass gerade bei der Erhebung und Darstellung der Daten einiges nicht so rund läuft, wie es laufen sollte.

Unabhängig von der Forderung bei der Erhebung und Darstellung von Daten einen vergleichbaren Standard zu setzen, wäre es lohnend, wenn sich die Politik an methodisch sorgfältig ausgeführter Wissenschaft orientieren würde. Es ist gängige Praxis, in einem Experimentalszenario möglichst wenige Größen zu variieren, während man die anderen konstant hält. Nur so lässt sich feststellen, wie das System auf Änderungen reagiert. Übertragen auf die momentane Situation würde das bedeuten, dass man ausgehend von den geltenden Quarantänemaßnahmen, zum Beispiel das Wirtschaftsgeschehen erst in wohldefinierten Bereichen wieder aktiviert und dabei die Verdopplungszeiten genau im Blick behält. Auf diese Weise kann man bei Bedarf gegensteuern oder aber auch mehr Leine geben.

Wenn die verschiedenen Bundesländer diese Strategie verwirklichen würden, wobei sie eben nicht gleichgeschaltet vorgehen dürfen, wäre es die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer beratenden Institute, diese Daten zu sammeln, auszuwerten, zu interpretieren und in konkrete Handlungsempfehlungen umzusetzen. Das wäre einen Form von systemischem Lernen. Das ist allerdings ein anderer Ansatz als der, welcher gerade zur Diskussion steht. Für die augenblickliche Situation gibt es keinen Masterplan. Zentralistische Anweisungen zu geben und dabei zu suggerieren einen Plan zu haben, obwohl es keinen Plan gibt, könnte ein Fehler sein.

Man denke an einen Strategen, der unbekanntes Terrain erkunden lassen möchte und dazu 16 Späher zur Verfügung hat. Macht es Sinn, diese alle auf demselben Weg ins Feld zu schicken? Oder ist es besser, die Kundschafter auf 16 verschiedenen Wegen loszuschicken und nur sicherzustellen, dass sie Leib und Leben behalten, damit sie in der Lage sind, später ihre Erfahrungen auszutauschen? Genauso machen es übrigens die Bienen, die auf verschiedensten Wegen nach Futter suchen, um dann den anderen von ihrem Erfolg zu „erzählen“. Es ist allerdings entscheidend, dass sie bei ihren Exkursionen am leben bleiben. Das ist die Forderung, die an alle gemeinsam zu stellen ist.

Unterm Strich haben wir wohl keine andere Wahl, als mit kollektivem Tasten – einer vernunftgeleiteten Trial-and-Error-Strategie – einen gemeinsamen Lernprozess in Gang zu setzen, mit dessen Hilfe wir die Grenzen des Möglichen ausloten können, um auf diese Weise aus der Krise zu kommen.


Dieser Beitrag ist in bearbeiteter Form unter dem Titel „Darwin Code: Warum wir in der Corona-Krise von tanzenden Bienen lernen solltenam 26. April 2020 im 1E9-Magazin erschienen.

Marco Wehr ist Physiker und Wissenschaftstheoretiker. Er hat lange zur Chaostheorie und Komplexität gearbeitet.