Geronimo ID’d…Geronomio EKIA.

Das sind die erlösenden Worte, auf die am Nachmittag des 1. Mai 2011 eine Gruppe von 14 Männern und zwei Frauen im Situation Room des Weißen Hauses gewartet hatten: Enemy killed in action. Hinter dem Codenamen Geronimo verbirgt sich Osama bin Laden, der Drahtzieher der Anschläge des 11. September.

Ein ikonisches Bild geht damals um die Welt: Präsident Barack Obama und seine Sicherheitsberater drängen sich in einem winzigen Konferenzraum zusammen und starren gebannt auf einen Bildschirm. Sie verfolgen live, wie Männer der Spezialeinheit Navy SEALs ein Anwesen in Pakistan stürmen. Was mag ihnen in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein? Welche Überlegungen, Diskussionen und Entscheidungen gingen dem Ereignis voraus – welche Zweifel und inneren Konflikte?

Die CIA hatte dem Präsidenten einige Zeit zuvor von einer möglichen Spur zu bin Laden berichtet, konnte ihn aber nicht zweifelsfrei identifizieren. Nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 bis 80 Prozent handele es sich um den Gesuchten. 40 bis 60 Prozent urteilten andere Analysten. Keine leichte Ausgangslage. Aber Obama entschied.

„I know we’re trying to quantify these factors as best as we can. But ultimately, this is a fifty-fifty call. Let’s move on.“

Warum diese Geschichte? Sie soll eine Schlüsselkompetenz illustrieren, die in Zukunft für uns alle noch viel wichtiger werden dürfte: Ambiguitätstoleranz.

Zeit für ein mentales Update

Die Psychologie spricht von Ambiguität im Zusammenhang mit einem Zustand der Unsicherheit, der Ungewissheit und des Zweifels, den wir als unangenehm empfinden. Wir halten Schwebezustände, Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeit einfach nicht gut aus. Deshalb neigen wir dazu, uns vorschnell in Überzeugungen und vermeintliche Gewissheiten zu flüchten. In einer zunehmend unbeständigen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt gleicht dieses Verhalten jedoch immer mehr dem Versuch eines Kindes sich zu verstecken, indem es sich die Augen zuhält.

Zur Beschreibung der modernen Welt wird häufig das Akronym VUCA bemüht. Es steht für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Um in dieser Welt bestehen zu können, brauchen wir ein Update unseres mentalen Betriebssystems. Es basiert auf der Einsicht, dass Beständigkeit kein Naturgesetz ist. Dass wir nicht alles wissen und nicht alles vorausberechnen können. Dass wir keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen geben können. Dass es sich lohnt, Überzeugungen zu hinterfragen und Zweifel zuzulassen.

Besonders treffend auf den Punkt gebracht hat es der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald. Seiner Ansicht nach sei es ein Ausweis erstklassiger Intelligenz, wenn man zwei entgegengesetzte Meinungen („ideas“) gleichzeitig im Sinn haben könne – und trotzdem noch funktioniere.

2030 – Wie wollen wir leben?

Ambiguitätstoleranz heißt, der VUCA-Welt mit offenem Visier zu begegnen. Als Grundhaltung ermöglicht sie uns, den Durchblick zu behalten, gelassen zu bleiben, mit Zweifeln produktiv umzugehen, widerstrebende Werturteile zu akzeptieren und konstruktiv abzuwägen – und auf diese Weise auch eine lebenswerte Zukunft zu schaffen.

Eine der Großfragen etwa wird bis 2030 lauten, wie wir unsere Gesellschaft und unseren Alltag in einer immer stärker technologisierten Welt gestalten wollen, in der der Mensch dank Künstlicher Intelligenz (KI), moderner Gentechnik und Gehirn-Computer-Schnittstellen in die Lage versetzt wird, förmlich über sich hinauszuwachsen – also vom Homo sapiens zum Homo deus (Yuval Noah Harari) zu werden.

Wie machen wir uns diese Potentiale zunutze und schützen gleichzeitig unsere individuellen Freiheits-, Schutz- und Selbstbestimmungsrechte? Wie bringen wir den Fortschritt mit den Ansprüchen an eine gerechte, offene und demokratische Gesellschaft in Einklang?

Und wie gehen wir damit um, dass in anderen Ländern andere Werturteile, Gesellschaftsbilder und politische Systeme vorherrschen – Ländern, mit denen wir im Wettbewerb um ökonomische, technologische, geopolitische, militärische und „moralische“ Überlegenheit stehen. Mit denen wir gleichzeitig aber auch kooperieren müssen, um uns das Wissen der Welt für wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt bestmöglich zunutze zu machen und globale Herausforderungen wie Klimawandel, Armutsbekämpfung und Friedenssicherung gemeinsam anzugehen.

Let’s face it

Zurück zu Obama. Er hat es sich nicht leicht gemacht damals. Sein inneres Ringen, seine Zweifel, können wir nur erahnen. Dennoch blieb er handlungsfähig. Die wenigsten Menschen geraten glücklicherweise in solch extreme Situationen wie eine Terroristenjagd. Und doch enthält dieses drastische Beispiel einige interessante Lehren.

Denn wir alle – in unserem privaten und beruflichen Leben, aber auch insgesamt als Gesellschaft – müssen immer wieder Entscheidungen unter Unsicherheit treffen, können nicht sicher sein, welche Folgen unsere Entscheidungen haben, und sehen uns widerstreitenden Werturteilen ausgesetzt. Diese Urteile unterscheiden sich zwischen Personen, Kulturen, Regionen und Generationen – und unterliegen nicht selten einem zeitlichen Wandel.

Obama war nicht nur der Unsicherheit ausgesetzt, dass es sich bei der Zielperson gar nicht um bin Laden handelt. Darüber hinaus stellten sich ihm viele weitere Fragen. Ist die Tötung eines Terroristen moralisch vertretbar? Könnte es unschuldige Opfer geben – und darf man das in Kauf nehmen? Welche Gefahr geht von dem Einsatz für die eigenen Leute aus? Sind Vergeltungsaktionen und eine endlose Gewaltspirale zu befürchten? Welche politischen Folgen wird die Aktion haben?

Einen Höhepunkt erreicht das Drama im Weißen Haus, als im Beraterkreis die letzte Aussprache über den Einsatz in Pakistan ansteht. CIA-Chef Leon Panetta und zwei weitere Sicherheitsberater sprechen sich dafür aus; Außenministerin Hillary Clinton ist hin- und hergerissen, befürwortet ihn letztlich aber ebenfalls („51:49“); Vizepräsident Joe Biden und Verteidigungsminister Robert Gates dagegen raten von der Aktion ab.

Das Bemerkenswerte an dieser Entscheidungssituation ist nicht nur das Dilemma, in das Obama angesichts der gegensätzlichen Empfehlungen seiner engsten Berater:innen gerät. Mindestens genauso interessant ist, dass er eine Atmosphäre des offenen Austauschs um sich herum geschaffen hat, in der abweichende Meinungen nicht nur zähneknirschend akzeptiert oder in der Folge sogar sanktioniert werden. Im Gegenteil: Der Widerspruch hat Methode. Gerade Vizepräsident Biden, so Obama, habe bei jeder wichtigen Entscheidung seiner Amtszeit immer wieder vorherrschende Meinungen infrage gestellt – „often in the interest of giving me the space I needed for my own internal deliberations“. 

Den Durchblick behalten

Sich ein gutes Umfeld zu schaffen ist heute für Entscheider auch aus anderen Gründen wichtig. So neigen wir insbesondere in Stresssituationen dazu, vorschnell unseren Intuitionen zu folgen – und dabei kognitiven Fehlschlüssen zu unterliegen. Auf diese Gefahr weist der Nobelpreisträger Daniel Kahneman in seinem Bestseller „Thinking, Fast and Slow“ hin. Sein Rat: sich mit Beobachter:innen umgeben. Dass man in ein Minenfeld gerät, würden Außenstehende oft viel leichter erkennen als man selbst. Beobachter:innen stünden zudem weniger unter Stress als Entscheidungsträger:innen und seien offener für neue Informationen.

Und auch Stimmungen, die bekanntlich stark schwanken können, wirken sich auf die Qualität von Entscheidungen aus. Wir seien eben nicht durchgehend dieselbe Person, konstatieren Kahneman, Olivier Sibony und Cass Sunstein an anderer Stelle. Um Zufallseinflüsse (noise) bei Entscheidungen zu reduzieren, empfehlen sie, sich unabhängige Urteile von mehreren Beurteiler:innen einzuholen. Unabhängigkeit ließe sich vor allem dadurch erreichen, die Urteile schon vor der Diskussion aufzunehmen, um die gegenseitige Beeinflussung von Meinungen zu verhindern.

Weil der US-Präsident das Ergebnis angesichts der vielen Unwägbarkeiten schlecht vom Ende her optimieren kann, konzentriert er sich auf den Entscheidungsprozess. Am Anfang stehen ein klar formuliertes Ziel und eine Handlungsanweisung, die für Verbindlichkeit sorgt („I want to see a formal plan for how we’re going to find him. I want a report on my desk every thirty days describing our progress“).

Sobald ausreichend Informationen vorliegen, werden Optionen entwickelt, die aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert werden, um den Entscheidungskorridor schrittweise einzuengen („every meeting […] had helped confirm my instincts“). Ab einem gewissen Punkt lässt Obama los und vertraut darauf, dass im Zuge der Umsetzung der Entscheidung auch andere Leute einen guten Job machen werden („I trusted that the SEALs would find a safe way out […], even if some of our calculations and assumptions proved to be incorrect“).

Die Entscheidung, die er am Ende zu treffen hat, ist schwerwiegend. Und eine einsame. Aber er ist bereit, sie zu treffen. Er hat Chancen und Risiken sorgsam abgewogen und sich Rat geholt. Fehlentscheidungen und schwierige Situationen in der Vergangenheit seien das beste Training für diesen kritischen Moment gewesen – so beschrieb er es im Rückblick.

Vielleicht dachte er dabei an Robert F. Kennedy, in dessen Tagebuch sich der passende Denkspruch dazu findet. Demnach sei eine gute Entscheidung üblicherweise das Ergebnis von Erfahrung; und Erfahrung häufig das Ergebnis schlechter Entscheidungen.

And while I couldn’t guarantee the outcome of my decision, I was fully prepared and fully confident making it.

Die Ruhe bewahren

Zweifeln erfordert mentale Anstrengung, volle Aufmerksamkeit und vor allem: Zeit. Kahneman spricht daher vom „langsamen Denken“. Der Philosoph Nassim Nicholas Taleb rehabilitiert in diesem Zusammenhang sogar die Prokrastination, also das Vor-sich-herschieben einer Entscheidung oder Tätigkeit. Menschen seien einfach schlecht darin, kurzfristig Informationen zu filtern.

Der Unwillen, den wir angesichts unangenehmer Entscheidungen oder Aufgaben verspüren, sei ein ganz natürlicher Instinkt und Abwehrmechanismus. Wir sollten ihn wirken lassen, ihn uns bewusst zunutze machen.

Aufschub schütze uns vor der Versuchung, hektisch auf alle möglichen kurzfristigen Informationen zu reagieren. Prokrastination erlaube, gewissen Entwicklungen auch einmal ihren Lauf zu lassen. Gerade die „Aktivist:innen“ unter uns erhalten so die Chance, ihre Meinung auch einmal zu ändern, bevor sie unwiderrufliche Entscheidungen treffen.

Und was zeichnet „Top-Beurteiler:innen“ sonst noch aus? Sie sind aktiv selbsthinterfragend. Das ist vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse von Kahneman und Kollegen.

Der moderne Mensch zweifelt – und das ist gut so

Blicken wir weiter in die Zukunft. Eine immer drängendere Frage betrifft den Umgang mit autonomen Waffensystemen. Der KI-Experte und Bestsellerautor Kai-Fu Lee befürchtet: „Der Einsatz autonomer Waffen wird durch ein unvermeidliches Wettrüsten beschleunigt werden, das nicht durch die natürliche Abschreckungswirkung von Kernwaffen in Schach gehalten wird. Autonome Waffen sind die KI-Anwendung, die unseren ethischen Wertmaßstäben am deutlichsten und tiefgreifendsten zuwiderläuft und die den Fortbestand der Menschheit bedroht.“

Experten und Entscheidungsträger stünden in der Pflicht, hier sehr sorgfältig alle möglichen Lösungsansätze abzuwägen und diese Gefahr frühzeitig zu bannen. Kai-Fu Lee spekuliert auch über ein Abkommen, das womöglich bis 2041 geschlossen werden könnte (KI 2041 lautet der Titel eines seiner jüngsten Bücher): Wie wäre es, wenn die internationale Gemeinschaft sich verpflichtete, künftige Kriege ausschließlich mit Robotern zu führen – also Menschenopfer von vornherein auszuschließen? „Diese [Idee lässt] sich heute noch nicht praktisch umsetzen, aber vielleicht [inspiriert] sie schon bald Konzepte, die bessere Chancen haben, realisiert zu werden.“

2030 wäre kein schlechter Zeitpunkt dafür.

Alles eine Frage des Trainings

Ambiguitätstoleranz gehört zu den Schlüsselkompetenzen des modernen Menschen. Nicht nur, um bessere Entscheidungen zu treffen. Sondern auch, um vor den Gefahren der Ambiguitäts-in-toleranz gefeit zu sein. Der Schweizer Psychoanalytiker Mario Gmür etwa warnt, dass übersteigerte Überzeugungen krank machen können: Depression, Schizophrenie, Wahn, Sektenabhängigkeit – die Liste der Überzeugungskrankeiten ist lang. Die „Unfähigkeit zu zweifeln“ sei aber auch ein gesellschaftliches Übel, weil sie Extremismus und Terrorismus Vorschub leiste.

In ein ähnliches Horn bläst der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der den Drang zur „Vereindeutigung der Welt“ für eine Ursache der vielfach beklagten „Spaltung der Gesellschaft“ hält. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Wünschen, Idealen und Überzeugungen und denen unserer Mitmenschen zu akzeptieren – also Ambiguitätstoleranz im besten Sinne – sei der einzige Weg, diese Spaltung zu überwinden.

Die gute Nachricht ist: Ambiguitätstoleranz lässt sich trainieren. So rät Gmür zu mehr kindlichem Staunen: „Zweifeln […] hat seinen Ursprung im Staunen, einer entspannten, nicht urteilenden Neugier, deren Aufgabe es ist, alles möglichst unbefangen wahrzunehmen.“ Es irritiere unsere selbstverständlichen Sicht- und Lebensweisen und schütze uns so vor der Gefahr, aus lauter Sehnsucht nach Sicherheit auf reine Scheinlösungen hereinzufallen.

Bauer empfiehlt die ernsthafte und respektvolle Beschäftigung mit Kunst, Religion, Wissenschaft, Politik und Natur. Schließlich zeichneten sich alle diese Felder durch ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit aus. „Nur dann, wenn [sie] ernsthaft bestellt werden, kann eine Welt der Bedeutungsvielfalt gedeihen, eine Welt, in der Ambiguität als Bereicherung und nicht als Makel empfunden wird.“

Und auch die Philosophie kann uns als praktische Lebenshilfe dienen. Bertrand Russell, der bedeutendste britische Philosoph des 20. Jahrhunderts, sah genau darin ihren größten Wert:

To teach how to live without certainty, and yet without being paralysed by hesitation, is perhaps the chief thing that philosophy, in our age, can still do for those who study it.

Lernen wir also zu zweifeln – und trotzdem handlungsfähig zu bleiben. Und schätzen wir Ambiguitätstoleranz als das, was sie ist: eine Schlüsselkompetenz des modernen Menschen.


Dieser Beitrag ist im Februar 2023 zuerst im neuen Deutschlandbuch NEXT.2030 erschienen. 

Foto: Pete Souza